Die neue Taubheit

Wie die durch sonore Technologien verursachte Zerstreutheit das Zuhören und das Sehen beeinträchtigt.

Der heutige akustische Kontext ist durch eine Überladung und Verbreitung unendlich vieler akustischer Reize gekennzeichnet. Es lässt sich ein Zusammenhang feststellen zwischen der „ Dritten Mechanischen Stimme“, wie ich sie schon genannt habe, welche sich durch den verstärkten Klang äußert, und der weitverbreiteten Bewusstseinstrübung, Geistesabwesenheit und Apathie, welche Verkehrs- und Haushaltsunfälle verursachen, Lernschwierigkeiten bereiten und die Arbeitsleistung senken.
Es existiert ein gemeinsamer Taubheitsfaktor, der aus dem Durchschnitt vieler Taubheiten entsteht und das Ergebnis eines allgemeinen Ansteigens des Grundniveaus des Hörens ist. Es handelt sich um eine sogenannte „ akustische Umweltpathologie“ oder, mit anderen Worten, um eine Störung, an der der Mensch leidet, die aber unabhängig von ihm selbst ist. Sie entsteht durch Mechanismen, welche aus der Umwelt kommen.
Der neue Taube leidet nicht an einer Schädigung der Hörzellen, sondern an einer akustischen Überbelastung, welche seinen Körper belastet und Einfluss auf sein Denken und Handeln ausübt.
Diese neue Taubheitsform überträgt sich nicht von Mensch zu Mensch. Die „Dritte Mechanische Stimme“ setzt sich als dominierender Lärm.durch, indem sie Gedanken und Dialoge überwiegt. Die Menschen passen sich dieser neuen „Mechanischen Stimme“ an und benutzen infolgedessen eine gemeinsame Kommunikationsweise, die aus lauten Stimmen und unstrukturierten Gesprächen besteht.
Die neue Taubheit bewirkt Unausgewogenheit und motorische Verwirrung unter Personen, die den selben Raum teilen. Diese Symptome betreffen nicht nur das Hören: im Raum orientieren wir uns durch das Hören und das Sehen.
Es ist kein Zufall, dass Menschen die an totaler Taubheit leiden, in der Lage sind, mit Hilfe eines rechten Seitenspiegels Auto zu fahren, und mittels der Sehfähigkeit von den Lippen und Gesten lesen können. Aus demselben Grund nimmt der Blinde den Raum durch eine eigene „bildliche Darstellung“ wahr, die auf der Erfahrung und Rekonstruktion der Umwelt durch das Hören beruht. Dieser Kompensationsprozess findet nicht statt, wenn die Taubheit auf Zerstreutheit zurückzuführen ist, da letztere auf beide Sinne und ihre spezifischen Funktionen einwirkt. Man könnte also sagen: „ Wer nicht hört, da er etwas über Kopfhörer hört, sieht auch nicht“.
Vollständige Taubheit verursacht eine reduzierte Raumwahrnehmung; diese reduziert sich auf die vordere Dimension. Die Unmöglichkeit zu kontrollieren, was sich hinten abspielt, verursacht Orientierungslosigkeit und einem Erregungszustand. Diese Beschränkung trifft auch den Menschen, der nicht von der Stille, sondern von dem, was er über den Kopfhörer hört, eingeschlossen ist. Typische Symptome sind die Fahrweise von Radfahrern, die im Zickzack fährt oder unbekümmert vorbeisaust, oder der Gang von Fußgängern, die hin und her schwanken und mit anderen zusammenstoßen. Beide, Radfahrer und Fußgänger, hören nicht und nehmen den Raum nicht in seiner Gänze wahr.
Orientierungslosigkeit und motorische Unentschlossenheit treffen mehr oder weniger alle Menschen, die an dieser neuen Taubheit leiden. Die Ablenkung und Betäubung, welche durch die neuen Technologien verursacht werden (seien sie individuell benutzte Mobilgeräte oder Lautsprechersysteme), erzeugen eine disharmonische Kombination von Bewegungen, in der jeder allein ist, taub dem Anderen und der Umwelt gegenüber.
Diese Tendenz verstärkt sich ständig, da die durch Lautsprechersysteme verursachte Taubheit sich auf die eigenverursachte Taubheit addiert. Letztere wird durch Vorrichtungen verursacht, die direkte am Ohr angebracht werden und in der Lage sind, große Musikmengen bzw. Informationen zu speichern, welche mit hoher Lautstärke gehört werden.
Der oben beschriebene eigenverursachte Isolierungszustand leitet eine totale Massentaubheit ein, welche durch Mobilgeräte (iPod, Kopfhörer) verursacht wird, die in der Zukunft direkt in den Körper eingepflanzt und zu einem immer anonymeren und robotisierten Kommunikationskontext führen werden.
Die Unaufmerksamkeit, die sowohl auf die Benutzung von Technologien in Bewegungssituationen (z. B. wenn jemand beim Fahren telefoniert) als auch auf die Wirkungen einer vorhergehenden Lärmexposition (z. B. ein zerstreuter Autofahrer, der sich lange in einer ohrenbetäubenden Umgebung aufgehalten hat) zurückzuführen ist, belegen eine technologisch verursachte Zerstreutheit und einen kausalen Zusammenhang, die in Unfallstatistiken außer Betracht bleiben.
In meinem Essay: „Die Neue Taubheit“ schlage ich einen Index hypothetischer technologisch bedingter Zerstreutheit vor, indem ich versuche, solche Unfälle zu identifizieren, die auf einen durch sonore Technologien verursachten Zustand der Unaufmerksamkeit zurückzuführen sind. Dieser Zustand tritt vor allem dann ein, wenn ein Autofahrer sich unerwartet vor Verkehrszeichen, Fahrzeugen oder Fußgängern befindet, wenn die Straße wegen Baustellen gesperrt ist oder bei eingeschränkter Sicht, also in Situationen, in denen ein Konflikt entsteht zwischen dem Automatismus, der den Autofahrer dazu verleitet, einen Teil seiner Aufmerksamkeit Unterhaltungstechnologien oder dem Navigationssystem zu widmen, und der Unberechenbarkeit des Straßenverkehrs. Auch die Straße, die wir oftmals befahren, ist nie die gleiche Straße.
Nach einer in meinem Essay „Die Neue Taubheit“ zitierten Studie haben in Italien zwischen den Jahren 2002 und 2006 solche Unfälle zugenommen, die auf mangelnde Aufmerksamkeit für den realen Kontext und die typische Taubheit desjenigen, der anderem zuhört, zurückzuführen sind. Diese Zunahme besteht trotz des Rückgangs der Gesamtunfallzahlen, denn im selben Zeitraum (um das Jahr 2005) stieg der Konsum von Mobiltechnologien und der Einsatz von Lautsprechersysteme an öffentlichen Orten (Bahnhöfen usw.) ans Zwischen 2002 und 2003 fand ferner eine beträchtliche Zunahme der Fußgängerunfälle statt (2001 kam der iPod auf den Markt).
Während die Konzentration auf eigene Gedanken das Individuum zwar ablenkt, es aber nicht hindert, Umgebungsreize wahrzunehmen, wirkt die technologisch bedingte Zerstreutheit auf das Hören und auf die Sichtaufmerksamkeit, indem sie die Wahrnehmung der von außen kommenden Reize verhindert: Dies ist der wichtigste Unterschied zwischen der normalen und der technologisch bedingten Zerstreutheit. Letztere hat ihren Ursprung in einer künstlichen, dem Individuum fremden Einheit, die sich durch die deformierte Stimme von Radio, Telefon, GPS äußert und die jedes natürliche Umweltgeräusch wie den Schritt eines Menschen, die Präsenz eines Radfahrers und eine ganze Reihe von Reizen überdeckt, welche im heutigen akustischen Kontext immer häufiger ignoriert werden.
Insbesondere die Kommunikation per Telefon bedingt eine hohe emotionale Beteiligung: der Autofahrer, der am Mobiltelefon spricht, neigt dazu, den Sicherheitsabstand nicht einzuhalten, die Fahrgeschwindigkeit zu steigern bzw. zu verringern und verursacht dadurch Dominoeffekte der Verunsicherung und Erschwernis des Straßenverkehrs. Die Reaktionszeit verlängert sich nicht nur dadurch, dass der Fahrer das Handy in die Hand nimmt, sondern auch dadurch, dass am anderen Apparat eine Person ist, welche gerade durch ihre Abwesenheit die Aufmerksamkeit auf sich zieht. 1 Der reale Kontext rückt leicht in den Hintergrund, auch wenn der Fahrer sich bemüht, seine Aufmerksamkeit gleichmäßig zu verteilen und trotz der Freisprechanlage, die es ihm erlaubt, beide Hände auf dem Lenkrad zu halten.
Anders ist die Situation, wenn der Fahrer mit jemandem spricht, der neben ihm sitzt. Die Straßenkontrolle wird in diesem Fall durch die Anwesenheit der anderen Person gesteigert statt vermindert.
Die Gründe für eine Ablenkung des Gehirns vom realen Kontext sind vielgestaltig: sie reichen vom persönlichen Problem, welches das Hirn beeinflusst, bis zur Verwendung von Substanzen, welche die Hirnfunktionen beeinträchtigen. Obwohl telefonierende Fahrer zahlreicher sind als betrunkene, ist die technologische Ablenkung in den meisten Fällen legal. In fast allen Ländern der Welt ist die Benutzung sonorer und interaktiver Technologien während des Fahrens unter der Voraussetzung gestattet, dass der Fahrer eine Freisprechanlage oder ein es mono-earphone benutzt. Der Radfahrer darf einen mono-earphone benutzen und der Fußgänger darf sich jeglicher Audiotechnologie und interaktiver Technologie bedienen. Daraus folgt, dass die Benutzung dieser Technologien nicht strafbar ist, solange nicht festgestellt wird, dass sie Unfälle verursachen und sie daher zu verbieten sind. W+ürde man das Hören lauter Musik beim Fahren verbieten, sänke die Zahl der Geschwindigkeitsunfälle (überhöhte Geschwindigkeit stellt schon heutzutage eine Gesetzesübertretung dar). Das Hören lauter Musik führt zu Unruhe und zu schnellerem Handeln. Diese Effekte sind bewiesen und werden von zahlreichen Fastfood-Ketten als Handelsstrategie benutzt. Die Zerstreutheit auf der Straße wird immer noch als zufälliger Faktor betrachtet, falls sie nicht durch den Missbrauch von Substanzen oder durch einen besonderen psychophysischen Zustand verursacht ist. Bis heute werden weder die unmittelbaren noch die nachträglichen Effekte der Kommunikationstechnologien in Betracht gezogen.
Es ist an der Zeit, von den Risiken der sonoren Technologien und des unkorrekten Fahrverhaltens zu sprechen. Die technologische bedingte Zerstreutheit sollte statt harmlos und gesetzlich erlaubt verboten werden, so wie Alkoholmissbrauch und Geschwindigkeitsüberschreitung gesetzlich verboten sind. Dies wäre ein erster Schritt, den obengenannten Risiken entgegenzuwirken und eine Verbesserung der Lebensqualität insgesamt zu erreichen.

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1 Die Reaktionszeit des Autofahrers, der das Handy in der Hand hält, verlängert sich durchschnittlich um den 50% in Vergleich zu der des Fahrers, der unter normalen Bedingungen fährt. Der am in der Hand gehaltenen Mobiltelefon sprechende Fahrer hat Schwierigkeiten, eine konstante Geschwindigkeit zu halten: er neigt dazu, den Sicherheitsabstand nicht einzuhalten und braucht eine halbe Sekunde mehr als unter normalen Umständen, um zu reagieren: Auf einer Fahrtgeschwindigkeit von 110 Stundenkilometer braucht er 14 Meter mehr zum Halten! Die Benutzung der Freisprechanlage und des mono-earphone, obwohl erlaubt, schaltet das Risiko nicht aus: die Reaktionszeit des Fahrers, der mit freien Händen telefoniert, ist beträchtlich höher als die Reaktionszeit des Autofahrers unter normalen Umständen. Ersterer braucht nämlich 39 Meter zum Halten, der Zweite nur 31 Meter.